25 Kasım 2013 Pazartesi

Türkisches Delight - Ein Memoir in Briefen



Türkisches Delight gewürzt auf deutsche Art


(Ein Memoir in Briefen)

      Anmerkung des Autors
Einige Charaktere und Orte sowie die Abfolge der Ereignisse wurden geändert, um Personen von denen zu schützen, die Erzählungen nur lesen, um zu entdecken, wer wer ist und die wichtigsten Beweggründe gerne überspringen. Die Fakten sind wahr, soweit jede Erinnerung je wahr sein kann, wenn es um das Füllen von Lücken in Briefen und Tagebüchern geht, wenn man endlich die Zeit und den Mut findet, sie nach einigen Jahren wieder zu lesen. Obwohl ich einige Leute mit neuen Namen getauft habe, blieben einige unverändert, wie Emine Sevgi Özdamar, dessen funkelnde Persönlichkeit keineswegs verdient, verborgen zu werden. Ich bin Menschen dankbar, denen ich namentlich nicht danken kann, insbesondere einigen türkischen Frauen in Kassel, die für mich nicht nur die Türen zu ihren Häusern, sondern auch zu ihren Herzen, Geheimnissen und Lebensgeschichten so großzügig geöffnet haben. Dem Anschein nach war ich die Privilegierte, jedoch waren sie die Stärkeren.

BRIEF 1 - Ratzlag Familie (Eppelheim-Heidelberg),
Oktober 1998

Liebe Tigris,
Ich habe beschlossen, dir Briefe lieber zu schreiben, statt mir Notizen in meinem Tagebuch während meiner Zeit in Deutschland zu machen. Im Schreiben eines Briefes steckt mehr Realität durch das Wahrnehmen eines Publikums und statt so zu tun, als ob man nur für sich selbst schreibt. Heidelberg ist ein "sicherer Hafen" in Deutschland; es ist sehr sauber, grün und voll mit ausländischen Studenten aus der ganzen Welt, die gekommen sind, um Deutsch zu lernen oder an der berühmten Universität zu studieren. Es ist seltsam insofern, dass man nicht das Gefühl hat, in Deutschland zu sein. Versteh mich bitte nicht falsch. Ich bin nicht voller Vorurteile ohne hier gelebt zu haben und sehe nicht die Deutschen als ernste und rassistische Menschen, die darauf bestehen, nur in ihrer eigenen Sprache zu sprechen. Doch bin ich ein bisschen überrascht, von Menschen auf der Straße sehr freundlich behandelt zu werden. Sie sind bereit, einem bei der Suche nach dem Weg zu helfen und sprechen Englisch, ohne von einem drum gebeten zu werden. Es scheint mir, dass sie gewohnt sind, Ausländer (Touristen und Studenten, nicht nur Arbeiter) um sich zu haben. Deshalb habe ich bereits begonnen, mich auf Kassel seelisch vorzubereiten, um nicht zu schnell deprimiert zu sein. Es ist eine andere Stadt und ich werde überwiegend von deutschen Studenten umgeben sein.
Meine Gastfamilie hier ist ein Ehepaar rund 55 Jahre alt mit zwei Söhnen. Da jede/r sich im eigenen Zimmer nach dem Abendessen einsperrt und die Tür hinter sich schließt, kann ich kaum die Familie zusammen sehen. Die Mutter ist jedoch eine Ausnahme; sie ist der Kopf des Haushalts und fühlt sich in jeder Hinsicht für mich und die andere Gaststudentin (eine junge Frau aus der Schweiz) verantwortlich. Ich beschwere mich nicht über diese nächtliche Abschottung, da ich immer noch die Wärme eines echten Hauses mit schönen Gerüchen aus der Küche und sanften Klängen eines Haushalts einem Wohnheim bevorzuge. Ob du es glaubst oder nicht, ich war es heute, die entschieden hat, den Bar-Chat nach der von der Sprachschule organisierten Rundfahrt im Regen durch die Altstadt zu überspringen und kam direkt "nach Hause". Siehst du die Veränderungen, die im Lebensstil deiner besten Freundin bereits stattfinden? 
In der Sprachschule wurde ich in das fortgeschrittene Niveau, Oberstufe, eingestuft, das mich plötzlich sehr selbstbewusst machte! Ein Lehrer fragte mich sogar, ob ich irgendwelche Germanistikkurse in der Türkei besucht habe. Es stellte sich heraus, dass die von mir besuchte Klasse nur zwei Schüler hat: mich und meine Mitbewohnerin Veronique. Obwohl das Tempo der Klasse ein bisschen langsam und langweilig aufgrund der Zahl der Studierenden (!) ist, werde ich mich nicht über das viele Lernen beschweren. Immerhin ist der Grund, warum ich hier bin: Deutsch auf einem fortgeschrittenen Niveau zu lernen. (Erinnere mich an diese Anmerkung in zwei Monaten, wirst du?)
Ich kann nicht glauben, dass es hier mehrere Studenten komplett ohne Deutschkenntnisse gibt. Wie mutig, könnte man sagen, oder wie dumm von ihnen?! Ich würde nie in ein fremdes Land kommen, um ein ganzes Jahr ohne Sprachgrundkenntnissen zu verbringen. Es kann eine Einladung für Depressionen und Heimweh sein. Es ist auch eine Verschwendung von Geld in den ersten Monaten und die Ursache für die Zunahme der diagnostizierten Geschwüre und nervösen Störungen bei deutschen Ausbildern!
Zurück zur Familie, bei der ich wohne: Sie sind sehr religiös, an den Wänden hängen mehrere Zitate aus der Bibel, alles schön gerahmt und dekoriert. Bevor wir jede Mahlzeit beginnen, beten wir. Der Vater hat angefangen, mir auf die Nerven zu gehen, weil er mir Witze über Türken in Deutschland erzählt und sich kaputt lacht, während ich ihm einige leere Blicke zuwerfe, da ich nur die Hälfte verstehe. Die, die ich kapiere, mag ich nicht, wie du dir vorstellen kannst. Nur weil er denkt, dass ich anders als die in Deutschland lebenden Türken bin, hat er den Mut, mir solche Scherze zu erzählen. Was für ein Idiot!
Meine beiden Gasteltern erzählten mir, sie waren sehr überrascht zu sehen, dass ich kein Kopftuch trage. Die Mutter fügte hinzu, man könnte mich anhand meines Benehmens und Aussehens nicht als Türkin erkennen. Sag mir bitte Tigris, was bedeutet das? Eine Beleidigung verkleidet als Kompliment oder einfach nur naives und direktes Gerede? Ich glaube nicht, dass woanders in Europa das türkische Bild so negativ sein kann.
Du solltest den verwirrten Ausdruck auf den Gesichtern der Menschen sehen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich aus der Türkei komme. Selbst die sehr ernstaussehenden oder ausdruckslosen Deutschen können ihr Erstaunen nicht verstecken. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll, aber etwas bereue ich: dass ich keine Fotos aus der Türkei mitgebracht habe. Familie, Freunde, Schule oder Urlaubsbilder .... Ich will nicht eine voreilige defensive Position bezüglich meiner türkischen Herkunft annehmen, aber das Zeigen einiger Bilder hätte ihre Vorurteile verändern können. Visuelle Materialien sind stärker als die Verbalen in diesem besonderen Fall.
Letzte Nacht hat mich ein Cousin von mir, der hier als Maschinenbauingenieur arbeitet, zum Kaffee und Kuchen eingeladen. Da ich ihn jahrelang nicht gesehen habe, erzählte ich meiner Gastgebermama, ich werde nicht in der Lage sein, sein Gesicht zu erkennen. Was für ein Fehler! Später erfuhr ich, dass dieser Kommentar Alpträume bei ihr verursacht hat und dass ihre Phantasie außer Kontrolle geraten war. Als ich kurz vor Mitternacht nach Hause kam, war sie fast in Tränen und umarmte mich sehr eng. Ihre Gedanken waren mit der verrücktesten Idee vergiftet, die radikalen Islamisten hätten mich als Geisel genommen, um mich zu bestrafen. "Warum sollten sie so etwas tun, und warum ich?", fragte ich sie. Ihr zufolge, weil sie hätten beobachten können, dass ich die Regeln des Islam missachte (kein Kopftuch, erklärte sie ausdrücklich) und dass ich es wagte, hierher zu kommen. Deswegen wurde für die Umsetzung des Szenarios in die Praxis ein Mann gewählt, der vorgab, mein Cousin zu sein. Anke hat, nachdem sie selbst zur 'Geisel' ihrer Phantasie geworden ist, zu Gott gebetet, dass Er mich gesund und munter nach Hause schickt. Ich war über diese Geschichte so verblüfft, dass ich immer noch keine Worte finde, während ich dir diesen Brief schreibe. Ich versuchte zu lächeln und tat mein Bestes, um höflich zu sein und ruhig zu bleiben. Mit meinem begrenzten Deutsch sagte ich ihr, dass dieses Szenario etwas übertrieben war und meine Nerven strapazierte. Sie war jedoch so mütterlich und sah so besorgt aus, dass ich sie nicht noch zusätzlich aufregen wollte. Beim Frühstück am nächsten Morgen suchte sie die Unterstützung von Veronique und fragte: "Wie kann ich jemandem glauben, der sich als ihr Cousin ausgibt und sie ausführt?" Veronique war sich auch nicht sicher, wie sie antworten sollte, aber sie schaffte es auch, Ankes Herz zu verschonen. Sie war vor kurzem mit ihrer Familie in Istanbul gewesen; sie übernachteten in einem der luxuriösesten Hotels der Stadt und reisten herum; deswegen hat sie eine Vorstellung darüber, wie es war, in Istanbul zu leben.
Das muss der Fluch meiner Mutter sein, die in Bezug auf mein Nachtleben nie ausreichend nachgiebig war, um meine Kriterien als Teenager zu befriedigen. Jetzt bin ich in Heidelberg und sehe meine beschützende Gastmutter!
Ich habe bereits türkisches Essen sehr vermisst, obwohl meine Erwartungen hier überhaupt nicht hoch waren. Heute Abend hatten wir dicke Kartoffelscheiben mit Ei und etwas Lauch, gebacken im Ofen, aber ohne Salz und Butter. Das Dessert war ein Fruchtjoghurt. Mir wurde gesagt, dass während meines Aufenthaltes kein Schweinefleisch serviert wird, was ich als sehr freundlich ansah. Anke hat mir gesagt, dass ich die erste muslimische Person in ihrem Haus war. Sie nahm ausländische Studenten schon seit Jahren an. Es ist ein zusätzliches Einkommen und einfach verdientes Geld für die meisten Familien in Heidelberg.
Ich will nicht mit weiteren Details auf meinen Schock eingehen, eine türkische Studentin in Deutschland zu sein, die aus der Türkei kommt und nicht die dritte, hier geborene, Generation ist. Würde ich hier für eine längere Zeit bleiben, wie würde ich mich positionieren und meine "Identität" ausgewogen halten, was auch immer das bedeuten mag? Das Unglück ist garantiert, wenn man immer wieder vor den Mitmenschen die türkische Herkunft hervorheben muss, weil man dadurch den Anderen nur hilft, einen auszugrenzen. Man ist besser dran, die Werte des Gastlandes so gut wie es geht zu umarmen, sie mit dem eigenen kulturellen und persönlichen "Gepäck" zu kombinieren, um eine gewisse innere Ruhe aufrecht zu erhalten.
Ich denke, ich werde für heute hier aufhören. Bitte sende meine besten Grüße an alle Freunde an der Universität und Prof. Orhun, dem ich verdanke, hier zu sein und eine andere Kultur und Sprache zu erleben. Bitte sage Sezin, dass ich ihr noch mehr zustimme, nichts ließe sich mit dem Fluchen in der Muttersprache vergleichen. Sie weiß, was ich damit meine und kann dir sogar eine damit verbundene Anekdote erzählen. Eine letzte Nachricht an Volkan, dass es kein amerikanisches College in Heidelberg gibt. Allerdings habe ich ein Institut namens "Deutsch-Amerikanisches Institut Heidelberg" gefunden und die Website ist http://www.dai-heidelberg.de. Ich bin mir sicher, dass er sie kontaktieren und eine Liste der amerikanischen Colleges in Deutschland erhalten kann, wenn er nicht davon besessen ist, in Heidelberg zu studieren.
Es gab einige Neuigkeiten in der deutschen Presse im Zusammenhang mit der Türkei, die ich mit dir teilen möchte und die nicht unbedingt positiv sind: Eine davon ist die Eröffnungsrede von Ayşe Nur Zarakolu auf der Frankfurter Buchmesse, die den „Freedom to Publish“-Preis erhalten und die eingeschränkten und zensierten Verlagsrechte in der Türkei verurteilt hat. Diese Nachricht war überall, inklusive der lokalen Zeitungen und wurde zusammen mit einigen anderen, einmal in der Türkei verbotenen, Bücher wie Aziz Nesins, ausgestrahlt. Es ist natürlich eine Schande für die türkische Regierung und unsere jüngste Geschichte, doch die Veränderungen finden langsam statt. Meine Beobachtung ist jedoch, dass die deutschen Medien nicht bereit sind, diese zu erkennen.
Es fühlt sich komisch an, von allem weg zu sein; von den Details meines früheren Alltags, lauten Straßen und überfüllten Bürgersteigen... Da ich nicht einmal meine erste Woche hinter mir habe, fühle ich mich definitiv immer noch wie eine Touristin. Ich bin voller Neugier und Aufregung, ich fühle mich auch wie ein Kind und ein anonymer Student. Es ist hart, einige depressive Momente, die überraschend wie Wolken kommen, zu beseitigen, aber insgesamt bin ich glücklich, hier zu sein. Ich genieße und beneide die sauberen Straßen, die pünktlichen öffentlichen Verkehrsmittel und die dunkelgrünen Wälder und ich bin mir durchaus bewusst, dass ein anderer türkischer Student vielleicht vor 150 Jahren aus Heidelberg die gleichen Zeilen an seinen Freund zurück in Istanbul geschrieben hat. Dennoch wird diese Tatsache mich nicht stoppen, die gute alte Klischee-Frage zu wiederholen, die wir in der Vergangenheit immer hörten: "Warum können wir in der Türkei nicht sauberer und pünktlicher sein? Ist es eine genetische Faulheit, ein Ergebnis der FBI-Verschwörungen, nur witterungsbedingt oder was?"

Küsse und Umarmungen,  
Oya
BRIEF 2 -                                                                  Kassel, 21. Oktober 1998
Liebe Tigris,
Da du meine engste Vertraute bist und ich dich eigentlich sowohl nach einem Rat fragen als auch  meine intimsten Gedanken und Erfahrungen mit dir teilen kann, gibt es einfach keine Notwendigkeit für ein separates Tagebuch. Bitte bewahre die Briefe an einem sicheren Ort für künftige Referenzen auf, weil ich weiß, dass das Gedächtnis uns manchmal im Stich lässt und auf eigener Version der Ereignisse im Laufe der Zeit beharrt. Ich möchte eine ordnungsgemäße Aufzeichnung meiner Gefühle und der ersten Eindrücke eines neuen Landes festhalten, während ich Menschen und meine Beziehungen zu ihnen beschreibe. Ich war vom ersten deutschen Roman, den ich in der Klasse gelesen und analysiert habe, beeindruckt: Homo Faber. Es ist von Max Frisch verfasst worden und zieht schlaue Parallelen zwischen dem Daedalus-Mythos und unserer modernen Mensch und Technik-Kombination. Der Held, ein Technokrat im mittleren Alter, forciert arroganterweise zu viel und ignoriert die Götter (oder metaphysische Kräfte?) und scheitert tragisch. Wir haben auch den Film, der auf diesem Roman basiert, gesehen. Ich erinnere mich, dass Traugott Fuchs das gleiche Buch damals in seiner Wohnung in Istanbul hatte. Ich erinnere mich, es zu berühren und den Titel zu der Archivbuchliste zu geben. Nun zurück zu meiner neuen Stadt und dem Leben:
            Das akademische Jahr hat begonnen und, wie ich zu Recht vermutet habe, die Atmosphäre hier in Kassel ist ganz anders als in Heidelberg. Weil ich nicht mehr eine Studentin der Sprachschule bin, achtet niemand auf meine begrenzten Deutschkenntnisse und die Leute sprechen sehr schnell und in der Regel nicht sehr klar. Leider beinhaltet das auch meine neue Gastfamilie. Ich habe fünf Kurse für den Start gewählt und die meisten von ihnen sind aus dem Fachbereich „Englische Philologie“. Ich weiß, dass es nicht viel Sinn macht, Kurse auf Englisch zu nehmen, wenn ich hier bin, um mein Deutsch zu verbessern. Ich werde es nach meiner Rückkehr in Istanbul vielleicht geheim halten. Jedoch ist es der einzige Weg, mich nicht wie ein Idiot zu fühlen. Nur in Kursen auf English bin ich komplett in der Lage, mich wie eine gebildete Erwachsene auszudrücken, dies ist äußerst wichtig für mein Ego! Je nach ihren Anforderungen werde ich einige Kurse abwählen. Sie haben ein ganz anderes System hier, du sammelst "Scheine" wie Credits durch eine Präsentation im Kurs und du hast keine Zwischen- oder Abschlussprüfungen wie wir in der Türkei. Vielleicht gebe ich dir keine komplett richtige Erklärung des Systems, aber glaube mir, ich war selbst noch nicht in der Lage, seine "Geheimnisse" zu lüften!
            Meine Familie lebt in Ahnatal, einem Vorort von Kassel mit sehr schönen Häusern und wohlhabenden Familien. Die Familie, bei der ich wohne, braucht definitiv nicht das Geld, das sie von mir bekommt. Der Vater ist CEO bei Mercedes und er hat das neueste Modell des sehr hübschen kleinen Mercedes "Smart-City-Coupe" oder so ähnlich. Er besitzt auch andere Autos, aber dieses sieht so süß aus! Als er mich für eine schnelle Stadtrundfahrt am Sonntag mitnahm, brauchte er nur 20 Minuten, um in die Innenstadt zu gelangen, während ich mit dem Bus eine volle Stunde bis zur Universität benötige. Das mag ich nicht, weil das Laufen zur Universität nach dem jahrelangen Verkehrskampf in Istanbul mein Traum war. Die Familie jedoch ist sehr nett zu mir, das Haus ist einfach großartig, die Mutter (oder eher Großmutter!) ist eine großartige Köchin und backt wunderbare Kuchen. Das Haus ihres Sohnes ist nur fünf Minuten zu Fuß entfernt und sie haben vier Enkelkinder. Sie lieben es, gemeinsam zu Abend zu essen und Sonntage zusammen zu verbringen. Sie sehen aus wie eine große italienische Familie, außer dass sie alle, ohne Ausnahme, blond mit blauen Augen sind. Ich verstehe einfach nicht warum sie ausländische Studenten in ihre Häuser aufnehmen. Wie auch immer, die zentrale Frage für mich ist im Moment: Entscheide ich mich für ein schönes, ruhiges, sauberes Leben im Vorort oder für eine kleine Wohnung mit wenigen Gehminuten bis zur Universität? Bin ich zu undankbar und werde ich in irgendeiner Form von oben bestraft, wenn ich für den Umzug entscheide? Wenn ich hier bleibe, wird es kein Nachtleben, keine Partys für mich geben, da ich nicht beispielsweise um ein Uhr nachts zurück kommen kann, es sei denn, ich habe einen Freund mit dem Auto, der bereit ist, mich zu verwöhnen! Bin ich willensstark genug, eine Streberin zu sein und meine Monate hier fast ohne soziale Aktivitäten zu verbringen? Was ist, wenn ich zu deprimiert und isoliert in den kommenden kalten Winternächten werde? Ich weiß es nicht. Ich werde lieber das Thema wechseln.
Die Stadt ist voll von Türken! Mir wurde gesagt, dass der Anteil der Arbeitnehmer viel höher als in vielen anderen deutschen Städten aufgrund ihres industriellen Charakters ist. Ich sollte ein paar andere Ausreden vorbereiten und die wahren Gründe für mich behalten, wenn die Leute mich fragen: "warum Kassel?" Wenn ich ihnen wahrheitsgemäß sage, dass ich an der documenta, der zeitgenössischen Kunst und Joseph Beuys interessiert war, bekomme ich nur fragende Blicke! Wie auch immer, die Präsenz von Türken und der türkischen Kultur ist wirklich erstaunlich zu beobachten und dies kann Tonnen von Material für die akademische Forschung oder für das Schreiben von Romanen liefern. Die Deutsch-Türken unterscheiden sich von uns in der Art wie sie sprechen, sich verhalten usw. aber sie vermitteln mir mit ihren türkischen Läden, Restaurants, Musik oder einfach der Sprache auf der Straße trotzdem irgendwie das Gefühl, zu Hause zu sein (obwohl die Sprache mit einem Dialekt gefärbt und mit deutschen Begriffen vermischt ist). Wir teilen viele kulturspezifische Eigenschaften mit ihnen. Sie sind freundlich, großzügig, interessiert, und schrecken nicht davor zurück, zu neugierig zu werden, wenn man ihnen zum ersten Mal begegnet. Die meisten von ihnen haben sehr scharfe und klare Meinungen über die Deutschen, so dass es mich bis zu einem gewissen Grad stört, wenn sie in fünf Minuten zusammengefasst werden. Leider basieren diese auf eigenen Erfahrungen oder Vorfällen, die ihre Freunde oder Verwandten erlebt haben. Das Problem ist, dass diese negativen Eigenschaften oder Warnungen nicht nur von Türken, sondern auch von mehreren anderen ausländischen Studenten erwähnt wurden. Ich mag diesen vereinfachten Minderheitsansatz der "Mächtigen gegen die Unterdrückten / Opfer" nicht. Selbstverständlich habe ich einige Monate Zeit, meine eigenen Meinungen und Urteile zu formulieren. Du wirst die Zeugin meiner Gedanken und Beichten sein. Es wird Spaß machen, diese Briefe Jahre später zu lesen und zu diskutieren wer weiß wo, meinst du nicht? Unabhängig davon wohin wir gehen, leben wir immer noch in unseren eigenen Köpfen. Wir leben in den Ideen, die wir über Orte haben, die wir besuchen. Auf diese Weise sind wir alle unzuverlässige Erzähler, nicht wahr?
Ich vermisse dich,
Oya

BRIEF 3 -                                                                              25. Oktober 1998

Du bittest mich um mehr Details in Bezug auf "negative Dinge", die ich über die Deutschen in meinem vorigen Brief erwähnt habe. Glaub mir, ich empfinde so als könnte ich dir endlose Briefe schreiben, wenn ich mich nicht zügeln würde, damit ich auch andere Dinge entdecken kann. Es ist unmöglich, dir einen vollständigen Überblick über alles zu geben, deshalb schreibe ich eher wahllos und ungeordnet. Das ist mir bewusst. Ich wünschte, ich hätte zuhause einen Laptop und einen Internetanschluss, so dass ich dir die Erlebnisse und die Ereignisse superschnell und frisch mailen könnte und vielleicht ausgestattet mit mehr Details. Ich vermute, dass in naher Zukunft auch die Studenten der Mittelschicht sich Laptops werden leisten und fast alles mit Computern tun können, aber definitiv nicht jetzt. Doch indem ich dir diese altmodischen Briefe schreibe, kann ich "das Leben" akkumulieren und mehr über die Details der täglichen Ereignisse nachdenken, wählen, sortieren usw. Es wäre nicht so, dass ich dir E-Mails jeden Tag schreiben würde. Oh, ich habe etwas im Zusammenhang damit: Ich las einen Aufsatz von Ingeborg Bachmann und wurde vor allem durch einen Absatz bewegt. Sie druckte ihre zwanghafte Gewohnheit aus, Menschen zu beobachten so wie ich es hier tue. Sie fühlt sich fast "gezwungen", dies zu tun:
Ich beobachte sie. Es ist der quälendste Zustand, in den ich je geraten bin, unabhängig davon in welchem ​​Land. Ich beobachte sie ständig. Ich starre sie auf der Straße an, in den Restaurants, in den Kneipen, im Bus, im Tiergarten, wenn ich einen Spaziergang mache. [...] Sie fallen mir in die Augen und verbleiben dort. Ich habe riesige Augenringe wo zehntausend Deutsche schmachten und darauf warten, gerettet zu werden oder kriechen aus meinen Lidern und fliegen weg, wenn ich träume. Ich bezweifle, dass die Deutschen fliegen können und sich aus den Lidern rausquetschen können.
  ("A Place of Chance")
Reizende jedoch sehr starke Bildsprache, meinst du nicht? Ich mochte die Zeilen und sie fühlten sich ein wenig vertraut, aber ich würde es nicht als einen "qualvollen Zustand" betrachten, sondern als etwas eher Neutrales, wenn nicht sogar Spaßiges.
Zurück zu deiner Frage: Ich werde die Ratschläge und Warnungen bezüglich der Deutschen zusammenfassen und im Hinterkopf behalten, ohne mich auf sie zu versteifen. Wenn ich darüber nachdenke, merke ich erst, dass ich mich mehr auf die Leute konzentriere, die den Rat geben, als auf den Rat selbst! An meinem ersten Tag an der Universität traf ich einen Gaststudent aus Brasilien, dessen Freundin zufällig eine äußerst attraktive Deutsch-Türkin ist. Sie ist eine hyper-aktive und sehr freundliche Frau. Jedenfalls verwendet Dave, der Brasilianer, größtenteils die Körpersprache, weil sein Deutsch sehr schlecht ist, trotz der neun Monate in diesem Land. Seine Mutter ist eine Deutsche, die das Land vor Jahren nach Universitätsabschluss für immer verlassen und sich in Brasilien niedergelassen hat. Sie sprach mit ihrem Sohn nie ein einziges Wort Deutsch! Doch einige Jahre nachdem Dave neugierig auf das Land und die Kultur seiner Mutter wurde, verreiste er für ein Jahr nach der High-School und schrieb sich an der Universität Kassel ein. Obwohl er ein eingeschriebener Student auf dem Papier ist, hat er nie Kurse besucht und hing nur mit ausländischen Studierenden zusammen, während er sein Geld für seine Reisen durch Europa mit dem Zug ausgab. Es ist sein erstes Mal in Europa. Er fasste sein Jahr in Deutschland genau so zusammen: Erster Monat: "Oh, wie interessant, wie grün, wie X und wie Y ist! Pralinen sind lecker und billig, die Museen sing gut und Partys sind Spaß. Zweiter Monat: „Nun, ich denke, ich bin fertig mit dem beobachten interessanter Dinge und langweile mich nur.“ Dritter Monat: „Warum ist das Wetter so schlecht und deprimierend? Ich bin auf jeden Fall gelangweilt und möchte zurück nach Hause. Vierter Monat: „Ich muss einen Psychologen sehen und brauche eine Behandlung. Dann werde ich ein Last-Minute-Ticket kaufen und nach Hause fliegen.“ Fünfter Monat: (er pausiert) „Würde ich lieber nicht spekulieren."
            Ich habe dir gesagt, dass sein Deutsch einfach ist! Doch es war ausreichend, um mich zu deprimieren. Er fügte nach seiner Zusammenfassung hinzu, dass die Dinge sich ändern, wenn man eine wunderbare Frau wie Sibel trifft und er umarmte sie dabei fest. Mein erster Eindruck war, dass sie ein tolles Paar sind und beide hinterließen einen sehr positiven Eindruck auf mich. Leider hat Dave in seiner Einfachheit Recht, wenn er sagt, dass hier etwas nicht stimmt. Es ist definitiv nicht greifbar und eine Person wie ich hat große Schwierigkeiten, es ausdrücken, ganz im Gegensatz zu Dave. Inmitten all dieser ruhigen, grünen Schönheiten in dieser gut organisierten Stadt fehlt etwas für jemanden aus einer heißblütigen Kultur wie Brasilien, der Türkei oder Spanien. Es ist nicht einfach die Sonne oder das Meer, ist es etwas anderes. Die menschliche Note in Form vom freundlichen Geplauder mit Fremden? Ich kann es einfach nicht definieren, und es ist noch zu früh, um es analysieren zu können. Außerdem sehe ich diese Erfahrung in Deutschland als Selbsttest, eine Herausforderung für meine Grenzen und Persönlichkeit, etwas, das ich für mich und für meine künftigen Entscheidungen erreichen möchte.
Ich bin nicht hier, um zum Stereotyp beizutragen, dass die Deutschen kalt und rassistisch sind. Wie dumm es ist, ein ganzes Volk zu verurteilen, vor allem von denjenigen, die unter ähnlichen Falschdarstellungen ihrer Kultur leiden? Ich hätte jetzt in einem anderen Land leben können, wäre es nicht wegen eines verstorbenen deutschen Künstlers, in den ich mich während eines Archivierungsprojekts in Istanbul verliebte. Sein Name war Traugott Fuchs. Mein Wunsch, eine zweite Fremdsprache zu lernen existierte bereits in mir. Vielleicht werde ich am Ende dieses Jahres realisieren, dass ich mehr "Türkisch" bin als ich dachte und werde einige beruflichen Entscheidungen entsprechend treffen. Gestern erzählte mir Dave auch einige irre Geschichten, die er bei den ihm bekannten Deutschen erlebte, wie beispielsweise ein Ehepaar die Einkäufe trennte und jeder die eigene Rechnung separat zahlte. Seine Gastmutter forderte von ihrer eigenen Tochter die Miete und beschwerte sich, dass das eigene verdiente Geld nicht ausreichte! Er fügte hinzu: "Sie stritten sich gestern Abend, da die Tochter sich weigerte, die erhöhte Miete zu bezahlen. Sie wird trotzdem zahlen." Als er mein Gesicht sah, schwor er, dass jedes einzelne Wort der Wahrheit entsprach. Als ich letzte Nacht in meinem Bett lag, stellte ich zum ersten Mal meinen starken Glauben an "gleichwertige" Beziehungen zwischen Paaren in Frage. Und auch mein obsessives Beharren auf Unabhängigkeit in der Türkei, ohne Unterstützung der Familie. Ich denke, alles kann irritierend sein, wenn es ins Extreme getrieben wird, sogar meine "heiligen" Konzepte zur Gleichstellung der Geschlechter und zur wirtschaftlichen Freiheit. Das Geheimnis der Ehen einiger gebildeter und unabhängiger deutscher Frauen mit ungehobelten (aus meiner Sicht!), türkischen Macho-Männern, die sie im Urlaub getroffen haben, enthüllte sich für einen Moment. Vielleicht war der Sex nicht der einzige Grund, wie wir damals scherzten und mit den Köpfen schüttelten. Wollen einige deutsche Frauen eine Art patriarchalischen Schutz, der ihnen nicht einmal erlaubt, Rechnungen zu bezahlen, unabhängig davon wie viel Geld sie verdienen? Kann das möglich sein?
Liebe und Küsse,
Oya

            BRIEF 4 -                                                                                          28. Oktober 1998
Als ich gestern mit meinen Eltern aus einer Telefonzelle in der Nähe des Hauptbahnhofs telefonierte, sah ich ein Graffiti: "Ich bin ein Deutscher, kein Nazi, aber das ist zu schon viel!" Hoffentlich hast du verstanden, dass "diese Aussage" sich auf Ausländer in Deutschland bezog. Ich versuche, mich in den Graffiti-Künstler hinzuversetzen und ich denke, manchmal könnten sie auf ihre Art Recht haben. Wenn die Ausländer hartnäckig auf ein Leben wie in ihrem Herkunftsland beharren (was ich vordergründig für eine Selbsttäuschung halte) und wenn dies den Fluss des Lebens in Deutschland unterbricht oder stört, werden zwangsläufig einige Zusammenstöße auftreten. Junge Menschen sind fast immer so leidenschaftlich und unverantwortlich in allem, woran sie glauben. Wenn ihre Energie und Leidenschaft in den Radikalismus jeglicher Art, Nationalismus oder Religion irregeführt wird, kann es in mehrfacher Hinsicht destruktiv sein. Oh, ja, ich klinge wie deine 70-jährige Tante, nicht wahr? Ich habe alles gesehen, alles getan...
            Ich muss dir eine letzte Geschichte erzählen, bevor ich heute Abend ins Bett gehe. Ich traf einen deutsch-türkischen Student auf dem Campus, der körperlich mit seinem blassen Teint wie ein Deutscher aussieht. Er kam gerade aus der Türkei zurück und beschwerte sich über laute Musik, Verkehr sowie Umweltverschmutzung. Er sagte dann so etwas wie "... oh diese Türken!", während er einige der Eigenschaften beschrieb, die er vorfand. Wir waren vier Leute und er erkannte schließlich, dass ich aus Istanbul bin und sanft auf gebrochenes Türkisch wechselte und sagte: "Es tut mir so leid, nehme es bitte nicht persönlich". Ich lächelte zurück, ich war überhaupt nicht verletzt. Was mich zum Lachen brachte, war, dass er mich nur fünf Minuten später fragte, ob ich einen Studentenausweis habe oder nicht, weil ich die teuren öffentlichen Verkehrsmittel in Kassel kommentiert habe. Ich sagte: „Noch nicht, aber in einer Woche oder so“. Dann sagte er: „Verschwende nicht dein Geld, mache eine Farbkopie von Sibels Fahrschein, bis du deinen erhältst. Sie werden dich nicht erwischen“. Ich fühlte mich sehr unwohl mit der Idee und sagte, dass ich, anstelle von Betrug, lieber das Geld "verschwende". Er lächelte und antwortete in einem sehr ironischen Ton auf Deutsch: "Wir sind Türken und von uns wird erwartet, dass wir alles tun, einschließlich Betrug oder insbesondere Betrug" und er ließ mich sprachlos.
            Das ist nur einer von Dutzenden von alltäglichen Fällen, die starke Auswirkungen auf mich haben und schade, dass ich es nicht schaffe, mehr aus ihnen zu machen. Ich kann Fotos machen, Gespräche von Menschen aufzeichnen und (die am wenigsten riskante Lösung von allen!) ich kann Geschichten über sie schreiben. Nicht nur über Menschen, sondern auch über Gegenstände, über Betrachtungen einer Untergrund-Kultur und faszinierende Beispiele verwirrter Identitäten...
            Ich sende dir vielleicht eine Kopie der Broschüre des Studentenverbandes. Es gibt so viele von ihnen, obwohl ich nicht weiß wie aktiv oder überfüllt sie in Wirklichkeit sind. Es gibt viele ältere Studenten, sie sehen meistens wie Hippies aus, einige mit Babys. Es gibt ein "autonomes lesbisches Café" auf dem Campus. Es gibt sogar eine studentische Vereinigung namens "Kurdistanstudenten", die eine ziemlich verzerrte Meinungsmache über ihre Ideologien macht, aber sie beweist gleichzeitig die Existenz der Redefreiheit auf dem Campus, im Gegensatz zu meisten türkischen Universitäten. Nach dem ersten Schock habe ich gelernt, dass kurdische Agitation seit vielen Jahren eine gängige Praxis hier in Deutschland ist. Kurdischen Extremisten stellen schreckliche Plakaten und Parolen über Türken in regelmäßigen Abständen in der Stadt auf. Es ist die Freiheit der bestimmten Minderheiten hier und sie beschränkt sich nicht nur auf den Campus. Es sind Darstellungen von blutüberströmten Köpfen, getragen von türkischen Soldaten unter folgenden Slogans: "Wollen Sie, dass Ihre Urlaubsersparnisse für Massaker an Kurden verwendet werden? Fliegen Sie nicht in die Türkei!" Oh, es war so schrecklich am Anfang, jetzt gewöhne ich mich an sie. Ich würde dir die anderen Plakate, die ich in der Stadt gesehen habe, nicht einmal beschreiben wollen. Ich habe das Gefühl, dass es sich um illegale Plakate handeln könnte, aber ich bin mir nicht sicher. Ich bin ein bisschen zögerlich, solche Themen mit Menschen, die ich gerade erst kennengelernt habe, zu besprechen. Ich brauche Zeit.
Pass auf dich auf und warne mich, solltest du die ersten, von Dave vorhergesagten, Symptome einer Depression in meinen Briefen nach dem zweiten Monat hier feststellen. Ich werde vielleicht nach dem ersten Semester zurückkommen, es seitdem ich verknalle mich in jemanden oder so etwas. Ich vermisse schon den Frühling und den Sonnenschein.
Mit besten Grüßen
Oya

BRIEF 5 -                                                                                                      30. Oktober 1998
Eine schnelle Notlüge, um mich vor der Alkoholabhängigkeit zu schützen, ist es hier zu sagen: "Ich bin Muslimin" und mit dem Trinken in der Öffentlichkeit aufzuhören. Auch wenn die meisten Deutschen keine oder nur falsche Vorstellung über die Türken in der Türkei haben, dies wissen sie jedoch: kein Schweinefleisch servieren oder etwas mit Alkohol anbieten. Erinnerst du dich an unsere Lieblingspralinen mit Alkohol und Sauerkirschen? Hier kosten sie die Hälfte und ich traf Menschen, die dachten, ich würde sie wegen des winzigen Tropfens Alkohol nicht essen! Sogar meine Großmutter, die fünf Mal am Tag gebetet hat, hat sie geliebt und gönnte sich hin und wieder die Freude. Die Türken hier müssen sehr religiös sein. Ich bin begierig darauf, einen türkischen Haushalt zu besuchen und ihr Leben zu beobachten. Gleichzeitig bin ich auch vorsichtig und möchte mich nicht in eine unerwartete Situation nur wegen meiner Neugier bringen. Wie auch immer, zurück zu meinem Lieblingsthema: den deutschen Pralinen! Ich habe schon drei Kilo zugenommen, aber ohne irgendwelche radikalen Veränderungen in meinem Erscheinungsbild zu planen. Ich werde bald ins Fitnessstudio gehen müssen. Es ist in vielerlei Hinsicht gut, nicht nur für Gewichtkontrolle.
Das Studio, das ich überprüft habe, verfügt auch über eine Sauna und die liebe ich bei solchem ​​Wetter. Wusstest du, dass es eine deutsche Frau war, Kathy, die mich zum ersten Mal in die Sauna des Universitätssportkomplexes in Istanbul mitnahm? Ich denke häufig an sie, seitdem ich hier bin. Die meisten der Themen, die wir besprochen haben, machten damals nicht viel Sinn. Jetzt werden sie alle in so kurzer Zeit so bedeutungsvoll. Sie war zweisprachig und lehrte ESL als Vorbereitung für die Universität. Ihren Schülern erzählte sie nie, dass sie zur Hälfte eine Deutsche war und Anthropologie in Deutschland studiert hatte. Sie hatte keinen Akzent und erzählte damals den Studenten, sie käme aus Schottland, wo sie zu einer Englischlehrerin ausgebildet worden ist. Eines Tages fragte sie mich in der Sauna, welchen Zeitraum eine türkische Frau im Durchschnitt braucht, bevor sie mit einem Mann schläft. Ich konnte meinen Ohren nicht trauen, aber ihr Ton war so naiv und sie erwartete ernsthaft eine Antwort von mir! Wie du richtig erraten kannst, sagte ich zu ihr: "Nun, es kommt darauf an". Nicht sehr präzise, nicht wahr? Ein anderes Mal, als wir uns zum Kaffee trafen, erzählte sie mir, dass sie einen kurdischen Mann im öffentlichen Minibus getroffen hatte und mit ihm ausging. Sie sagte, sie hatte sich für "den kurdischen Kampf" all die Jahre während des Studiums in Deutschland interessiert und nun hatte sie ihre Chance, Erfahrungen aus erster Hand über diesen Mann und seine Familie zu sammeln. Das ging mir auf die Nerven, aber ich sagte damals nicht viel. Ich dachte, da dieser Typ zufällig Manager einer renommierten Bank in Istanbul war, und sie auf Türkisch kommunizierten (er sprach kein Englisch, Kathy lernte Türkisch so schnell), einige ihrer Vorurteile über dieses Thema müssten bereits zerstört worden sein. Wer weiß, wo sie jetzt sind? Es ist lustig, dass meine letzte Erinnerung an sie ihr Verlobungsring und ihre Geschichten aus Van sind, wo sie seine Familie zum ersten Mal traf. Ihre Augen waren voller Tränen, und sie erzählte mir, dass sie noch nie so viel Liebe und Zuneigung in ihrem Leben bekommen hatte. Sie verliebte sich nicht in diesen Mann und in das Land, weil die übernatürlichen Kräfte es für sie arrangiert haben, sondern weil sie es so wollte.
            ... und liebe Freundin, was ist mit mir? Glaubst du, ich bin bereit, mich in einen Fremden zu verlieben? Vielleicht haben meine Eltern zu Gott gebetet, dass mich nur ein türkischer Mann verführen kann! Ich treffe so viele neue Menschen jeden Tag, aber niemand berührt wirklich mein Herz, ich bin freundlich, aber distanziert genug, um Männer fern von mir zu halten. Ich habe Angst davor, mich so früh im Leben zu binden und ich kenne den trügerischen "Abhängigkeitseffekt“ der langfristigen Beziehungen auf eine rastlose Seele. Ich habe Angst, von der Routine gelangweilt zu sein, die ein solider Ehemann mir anbieten kann. Dann würde ich Gefühle von zwei Menschen vergeuden, nicht nur meine. Ich bin absolut sicher, dass ich die Kraft habe, jede Karriere oder Person in meinem Leben aufzugeben, wenn ich glaube, dass die Erfüllung verflogen ist. Oh, hätte ich fast vergessen, dir von der wichtigsten Veränderung in meinem Leben zu berichten: Ich bin umgezogen! Ja, nachdem ich stundenlang darüber nachgedacht und einige geheime Besichtigungen tagsüber gemacht habe, fand ich eine Wohnung, packte und verließ so schnell, dass auch ich mich kaum noch erinnern kann, wie alles passiert ist! Diese neue Wohnung ist nur drei Straßenbahnhaltestellen von der Universität entfernt und ich kann bei schönem Wetter ohne Probleme hinlaufen.
            Letzten Mittwoch hatte ich einen Weinkrampf, der mich unvorbereitet traf und mich für zehn oder fünfzehn Minuten kraftlos ließ. Es geschah während meines Kurses „American Cinema“ und wir sahen uns "Fried Green Tomatoes" an. Glücklicherweise waren alle Lichter aus, um einen Kino-Effekt im Kurs zu erzeugen. Trotzdem musste ich den Kurs verlassen und der Professor wusste, dass ich weinte, sagte aber nichts. Er ist ein älterer Amerikaner im Rollstuhl, und ich bin neugierig, seine Geschichte zu erfahren. Ich bewundere die Tatsache, dass er noch Vorlesungen gab, und dass er immer pünktlich ist. Wir haben kein einziges Wort über meine geschwollenen Augen und die rote Nase ausgetauscht, aber noch in dieser Woche brachte er eine Eddie Murphy-Komödie mit und erzählte uns, dass es an der Zeit war, zu lachen und unsere Herzen zu erheitern. Das berührte mich sehr, da der Film im Zeitplan, den er uns zu Beginn des Semesters gab, nicht aufgelistet war. Ich habe alle Anhaltspunkte, dies persönlich zu nehmen.
Ein letzter Tratsch: Berk rief mich in dieser Woche zweimal aus Istanbul. Er sagte, er habe meine Telefonnummer von meinen Eltern erhalten und redete und redete. Er erzählte mir sogar, dass er mich bald besuchen wird. Glaubst du, dass er es ernst meint? Er sagte, es gäbe Briefe, die er geschrieben, aber noch nicht verschickt hat. Ich frage mich warum. Ich dachte, wir wären nur gute Freunde, aber diese Anrufe waren etwas merkwürdig. Sie motivierten mich jedoch, dir die Wahrheit zu sagen. Wir werden sehen ...
PS: Ich vermisse den Geruch von Jod und Moos und unsere langen Spaziergänge und Chats entlang des Meers. Ich vermisse sie sehr.
Pass auf dich auf,
Oya
 

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